Filmkritik

Di 22. Mai 17.30 und 20 Uhr
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Der Hauptmann

Drama | Historienfilm | Kriegsfilm

Regie: Robert Schwentke

mit: Max Hubacher (Willi Herold) · Milan Peschel (Freytag) · Frederick Lau (Kipinski) · Bernd Hölscher (Schütte) · Waldemar Kobus (Lagerleiter Hansen)

Deutschland/Polen/Portugal/Frankreich 2017, 16 ab , 119 min.

Im April 1945 schart ein Gefreiter in der Uniform eines Hauptmanns eine Gruppe versprengter Soldaten um sich und verbreitet in der norddeutschen Provinz mit dem Standrecht Angst und Schrecken. In einem Lager werden Strafgefangene willkürlich abgeschlachtet, später zieht die Soldateska marodierend weiter. Nach historischen Vorkommnissen zeichnet das stark stilisierte und in kontrastreichem Schwarz-weiß gefilmte Drama die mysteriöse Selbstermächtigung des Anführers als mörderische Köpenickiade, wobei die Inszenierung die Motivation der Hauptfigur bewusst vage lässt.

Langkritik:

April 1945, irgendwo an der nordwestdeutschen Front. Ein junger Mann in Wehrmachtsuniform wird von einer ausgelassenen Gruppe Soldaten fast spielerisch gejagt und kann nur knapp entkommen. Wenig später entdeckt dieser Soldat, Willi Herold, in einem verlassenen Fahrzeug die blitzblanke Uniform eines Hauptmanns. Er zieht sie an und probt ein paar Haltungen, die seines Erachtens zu der Uniform passen. Den zufällig des Weges kommenden Gefreiten Freytag vermag er damit zu überzeugen. Freytag wird Herolds Fahrer.

In der Folge versammelt der frisch gebackene Hauptmann mit etwas Glück und einem forciert selbstsicheren Auftreten immer mehr Versprengte hinter sich und formiert die „Kampfgruppe Herold“, die schließlich im Hinterland im Auftrag des Führers das Standrecht vertritt. Als die Truppe auf ein Strafgefangenenlager stößt, in dem Wehrmachtsdeserteure das Kriegsende herbeisehnen, beginnt eine Woche des willkürlichen Abschlachtens von Inhaftierten. Nachdem das Lager schließlich von alliierten Luftangriffen zerstört wird, zieht die Soldateska marodierend weiter durch die norddeutsche Provinz, bis deutsche Militärpolizei dem mörderischen Treiben schließlich ein Ende setzt. Doch dem NS-Militärgericht erscheint Herolds Pragmatismus durchaus verwendungsfähig; eine Verurteilung unterbleibt.

Nach mehr als einem Jahrzehnt, in dem er in Hollywood Filme wie „Flightplan – Ohne jede Spur“ (fd 37 274) oder „R.E.D. – Älter, Härter, Besser“ (fd 40 137) drehte, kehrt Robert Schwentke mit „Der Hauptmann“ wieder nach Deutschland zurück. Die Geschichte der mysteriös-mörderischen Selbstermächtigung des Gefreiten und vormaligen Schornsteinfegerlehrlings Willi Herold war bereits vor gut 20 Jahren Gegenstand des mit dem Grimme-Preis 1998 prämierten Dokumentarfilms „Der Hauptmann von Muffrika“ (fd 37 067) von Paul Meyer und Rudolf Kersting. Deren chronologisch erzählter Film setzte auf die Konfrontation von Zeitzeugen mit der Landschaft des Emslandes, wo die Geschichte sich abspielte, und verzichtete auf ein schlüssiges Psychogramm des jugendlichen Täters.

Auch Schwentke, dem mit „Der Hauptmann“ ein Film aus Täterperspektive vorschwebt, arbeitet mit dem blinden Fleck eines nicht (oder nur sehr kurz) zur Identifikation einladenden Protagonisten, dessen Motivation unklar bleibt. Schwentke erkannte in dieser mörderischen Köpenickiade das Potenzial, etwas Allgemeineres zur Psychologie des Faschismus zu erzählen, indem er sich beispielsweise auf Hannah Arendt bezieht: „Wenn wir von jemandem sagen, er ,habe Macht‘, heißt das in Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln.“ Fraglich ist nur, ob die Geschichte des Willi Herold wirklich dazu taugt, diese komplexe These zu exemplifizieren. Schwentke versucht es, indem er auf Leerstellen und Abstraktion setzt, belässt den spannenden Moment der Hauptmann-Werdung und des Hauptmann-Werden-Wollens aber in der Unschärfe und zeigt anschließend, dass die Existenz des Hauptmanns von Dritten im Sinne ihrer Mordlust instrumentalisiert wird.

Der sehr junge Willi Herold muss erst noch lernen, sich in seiner neuen Rolle angemessen zu verhalten. Um seine Autorität zu unterfüttern, muss er selbst töten. Später kann er es sich dann leisten, töten zu lassen. Er muss jedoch stets auf der Hut sein, seine Ermächtigung, deren Kehrseite die Ermächtigung Anderer ist, aufrecht zu erhalten. Schnell kann sich die Gewalt auch gegen Mitglieder der Gruppe richten, wenn unsichtbare und unausgesprochene Grenzlinien überschritten werden. Diese zwanghafte Gruppendynamik, das Schattenhafte von Befehlshierarchien, die sich in Auflösung befinden, aber mit ihren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten noch halbwegs entlastend wirken, arbeitet die Inszenierung in stilisiert-kontrastreichem Schwarz-weiß eindrucksvoll heraus, wenngleich die partielle Getriebenheit Herolds ohne ansatzweise Psychologisierung in der Tendenz zur Entschuldung ein hoher Preis ist, den der Film zahlt.

Welches Potential im Sinne einer anarchischen Höllenfahrt dem Szenario innewohnt, wird erst nach der Zerstörung des Lagers skizziert, als sich die Reste der Truppe jetzt als „Schnellgericht Herold“ auf den Weg in die umliegenden Kleinstädte machen. Wie zuvor schon beim Auftritt zweier Schauspieler bei einem „Bunten Abend“ nach einer Massenhinrichtung bekommt der Film eine surreale Komponente mit grotesk-komischen Zuspitzungen, die ihn atmosphärisch in Richtung von Pasolinis „Saló“ (fd 19 663) oder Célines Roman „Von einem Schloss zum andern“ driften lässt.

War Herolds Agieren im Lager noch ein Lavieren, ein fragiler Hochseilakt, so handelt er jetzt ohne Netz und doppelten Boden wie ein Toter auf Urlaub. Das vorläufige Ende dieser Karriere ist dann recht prosaisch, und das sich anschließende Gerichtsverfahren aussagekräftig für das herrschende Regime. Im Film verschwindet Willi Herold „auf Bewährung“ im Dunkel des Waldes. In der Realität wird Herold, der „Henker vom Emsland“, im Mai 1946 zufällig verhaftet und im November mit einigen Mittätern des 125-fachen Mordes angeklagt und hingerichtet.

„Der Hauptmann“ ist sicher kein Antikriegsfilm und aufgrund der gewollten Leestellen auch kein „Blick in menschliche Abgründe“, sondern eher eine filmische Meditation über Thomas Hobbes’ Satz vom Menschen, der dem Menschen ein Wolf ist. Wenn ganz am Schluss die uniformierten Darsteller durch das heutige Görlitz ziehen und mittels Mummenschanz Passanten provozieren, dann ist das allerdings ein etwas platter Witz, der den Film beschädigt: das Karnevaleske, das die Geschichte des Willi Herold auszeichnet, stammt eher aus dem Bewusstsein eines Hieronymus Bosch, Rabelais, Goya oder de Sade denn aus dem Reality-TV a la „Er ist wieder da“ (fd 43 432).

Ulrich Kriest, FILMDIENST