Filmkritik

Di 16. April 17.30 und 20 Uhr
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Der Junge muss an die frische Luft

Regie: Caroline Link

mit: Julius Weckauf (Hape Kerkeling) · Luise Heyer (Mutter Margret) · Sönke Möhring (Vater Heinz) · Joachim Król (Opa Willi) · Ursula Werner (Oma Bertha)

Deutschland 2018 | 100 Minuten | ab 6

Verfilmung eines autobiografischen Romans von Hape Kerkeling, die von der Kindheit des Entertainers im Ruhrgebiet der 1970er-Jahre erzählt. Diese wird stark von der psychischen Erkrankung seiner Mutter geprägt, deren Depressionen der Junge durch humoristische Imitationen, Sketche und Gesangseinlagen aufzuhellen versucht.

Langkritik:

Verfilmung des autobiografischen Romans von Hape Kerkeling, die von der Kindheit des Entertainers im Ruhrgebiet der 1970er-Jahre und der psychischen Erkrankung seiner Mutter erzählt. Der in seinen tragischen Momenten sehr stimmige Film bleibt insgesamt allzu gefällig.

Recklinghausen ist ein Paradies für den kleinen Hans-Peter (Julius Weckauf). Am Stadtrand kann er wandern, reiten, mit Mutter Margret (Luise Heyer), den Großeltern und am Wochenende auch mit Vater Heinz (Sönke Möhring) Feste feiern und, wenn die große Familie einmal nicht beisammen ist, allein vor dem Fernseher sitzen – bis zum Sendeschluss. Das nächtliche Testbild, das nach „Klimbim“ und dem Abendkrimi auf dem Fernsehbildschirm erscheint, wird das Ende der idyllischen Kindheit markieren, die Hape Kerkeling im Ruhrgebiet der 1970er-Jahre verbrachte.

Am letzten Abend vor ihrem Selbstmordversuch erlaubt die Mutter dem kleinen Jungen, bis zum Testbild fernzusehen. Dann verschwindet sie im Schlafzimmer und nimmt eine Überdosis Schlaftabletten. Ihr psychisches Leiden ist bis dahin im Familienalltag zunächst fast unbemerkt geblieben. Das erste Mal sieht Hans-Peter seine Mutter weinen, als sie für das Mittagessen Zwiebeln schneidet. Eine perfekte Tarnung, die durch ihr leises, unterdrücktes Schluchzen auffliegt. Der Sohn greift zur vertraut-verlässlichen Lösung: Er bringt seine Mutter mit einer kleinen Schauspiel-Einlage zum Lachen.

Mit Comedy-Einlagen gegen die Depression

Nach dem Familienumzug in einen städtischen Altbau wird das Aufmunterungstalent des Jungen mehr und mehr gefordert. Die Mutter ist überlastet von der Hausarbeit und der ständigen Koordination der Handwerker. Eine Nebenhöhlen-Operation kann zwar ihre chronischen Kopfschmerzen lindern; ihre Depression aber bleibt unbehandelt. Die immer größer, herzlicher und ausgefeilter werdenden Comedy-Einlagen des Jungen sind ebenso wenig ein Heilmittel für die psychische Krankheit wie die gut gemeinte, aber völliger Verzweiflung geschuldete Aufforderung des Vaters, Margret solle gefälligst etwas Freude zeigen. Den Tod der Großmutter hat die Familie noch mit sanften Worten und den angemessenen Trauerriten bewältigen können; der zunehmend katatonische Zustand der Mutter aber stellt sie vor ein unlösbares Rätsel.

Gerade diese Momente, in denen der Humor als Allheilmittel versagt und weder Hans-Peter noch seiner Familie die sonst immer greifbaren humorvollen und schönen Lösungen einfallen, sind die stärksten des Films. Regisseurin Caroline Link versteht es, die zentrale Tragik von Kerkelings Biografie zu erzählen, ohne den leichten Tonfall aufzugeben, den eine aufwändige, familiengerechte Kerkeling-Adaption verlangt. Was der Verfilmung von Kerkelings Kindheit hingegen immer fehlt, ist die Perspektive eines Ich-Erzählers. Viele der szenischen Ausarbeitungen sind zum Scheitern verurteilt, weil sie ohne Kerkeling als Erzähler keinerlei persönliche Färbung bekommen und dementsprechend plump wirken. Wenn der junge Hans-Peter wieder und wieder in den Herren-Unterwäschekatalogen blättert, wirkt das ohne die persönliche Färbung oder geschickte Setzung wie ein billiger Verweis auf die Homosexualität des Prominenten, der der Junge einmal sein wird.

Perfekt choreografierte Verweise auf die späteren Erfolge

Ähnlich verhält es sich mit den Sketchen, Imitationen und Gesangseinlagen, die der junge Hans-Peter immer wieder einstreut. Diesen fehlt das, was die Rührung solcher kindlichen Versuche ausmacht: Die ungelenke Art, die unabsichtliche Komik oder gar die Abwesenheit einer Zuspitzung, die kindliche Imitationen und Unterhaltungsnummern so rührend macht. Stattdessen sind die Einlagen stets perfekt choreografierte Verweise auf die späteren Nummern und Charaktere Kerkelings – insbesondere die Kunstfigur Horst Schlemmer wird immer wieder mit einem wissenden Zwinkern als kindlicher Frühentwurf präsentiert.

Unebenheiten vermisst man hier ebenso wie die persönliche Perspektive der autobiografischen Erzählung. Die Freude, die eine Familie empfindet, wenn die eigenen Kinder Spaß an der Unterhaltung anderer finden, überträgt sich im Film nur als Fremderfahrung. Caroline Links Adaption von Kerkelings Kindheit fühlt sich an, als würde man die Entertainment-Einlage eines fremden Kindes beobachten. Man mag überrascht sein, wie gut der ein oder andere Ton getroffen wird, aber wirkliche Rührung empfindet man ohne die persönliche Bindung nicht.

Karsten Munt, FILMDIENST