Filmkritik

Di 11. Juni 17.30 und 20 Uhr
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Mid90s

Drama

Regie: Jonah Hill

mit: Sunny Suljic (Stevie) · Katherine Waterston (Dabney) · Lucas Hedges (Ian) · Na-kel Smith (Ray) · Olan Prenatt (Fuckshit)

USA 2018 | 85 Minuten | ab 12

Los Angeles in den 1990er-Jahren. Ein 13-jähriger Junge ist kein Kind mehr, hat sich aber noch nicht als Teenager gefunden. Als er sich mit Heranwachsenden aus einem örtlichen Skaterladen anfreundet, eröffnet sich ihm eine bislang unbekannte Welt mit Alkohol, Marihuana, Ärger mit der Polizei und ersten sexuellen Erfahrungen. Mit neuem Selbstbewusstsein kann er sich aus seiner familiären Umklammerung lösen. Der formal ambitionierte, liebevoll erzählte und sorgfältig gestaltete Film handelt von Identitätsfindung und sozialer Zugehörigkeit.

Langkritik:

In den 1990er-Jahren freundet sich ein 13-Jähriger in Los Angeles mit Jungs aus einem Skaterladen an und entdeckt darüber eine bislang unbekannte Welt. Ein formal ambitioniertes, liebevoll erzähltes Drama über Identitätsfindung und Zugehörigkeit.

Die ersten Bilder von „Mid90s“ gelten Stevies „Turtles“-Bettwäsche. Die ist Mitte der 1990er-Jahre schon retro oder, wie es voller Verachtung einmal heißt: „Voll 80er“! Immer wieder richtet der Film den Blick liebevoll, mitunter sogar obsessiv auf die popkulturelle Dingwelt: auf Poster, T-Shirts mit Aufschriften von Computerspielen und Filmen, aber auch auf selbstgestaltete Kultobjekte wie Mixtapes. Sie geben Auskunft über die Identität der Figuren, ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder einem Milieu. Eines ist dabei klar: einem 15-jährigen Jungen, der sich nachts in niedliche Schildkröten bettet, fehlt es an beidem.

„Mids90“, das Regiedebüt des Schauspielers Jonah Hill, ist die Geschichte einer Identitätsfindung – und eine nostalgisch getränkte Hommage an die Skaterszene der 1990er-Jahre. Dass so eine Findung immer auch eine Ablösung ist, erzählt der Film. Denn tatsächlich ist Stevies von stiller Bewunderung getragene Annäherung an die eingeschworene Gruppe um den örtlichen Skateboard-Shop auch eine Flucht.

Ein Bild zwanghafter Ordnung

Zu Hause hält er es nur schwer aus. Die alleinerziehende Mutter steht unter Hochspannung, sein ältere Bruder Ian prügelt ihn regelmäßig grün und blau. In direkter Gegenüberstellung wirft der Film auch einmal einen Blick in Ians Zimmer: T-Shirts, Sneakers und Baseballcaps hängen bzw. stehen in Reih und Glied, Poster pflastern die Wände, auf dem Fußboden liegen schwere Hanteln. Es ist ein Bild zwanghafter Ordnung und latenter Aggressivität.

Nachdem Stevie zunächst mit einem altem Skateboard vor der familiären Garage geübt hat, wagt er es, sich schüchtern an die Gruppe um Ruben, Ray, „Fuckshit“ und „Fourth Grade“ heranzutasten. Nach dem gespielt beiläufigen Erkunden des Ladens und verstohlenen Blicken auf die so coole wie dumm daherquatschende Gruppe („Würdest du lieber deine Mutter vergewaltigen oder deinem Vater einen blasen?“) gelingt es Stevie, sich durch hartnäckige Präsenz und Nachahmung szenespezifischer Codes, etwa die Art, wie man sich an die Wand angelehnt auf den Boden setzt, das Skateboard lässig im Schoß, mit dem Jüngsten der Gruppe zu verkumpeln, bevor er die Aufmerksamkeit und Zuwendung der „Großen“ gewinnt.

Hill schildert Stevies Eingemeindung auf geradezu prototypische und dadurch auch etwas vorhersehbare Weise; auch der obligatorische Initiationsritus darf nicht fehlen.

Die soziale Dynamik innerhalb der Gruppe

Das Interesse des Films gilt aber weniger dem Skaten an sich; es gibt keinen einzigen Moment, in dem sich die Inszenierung in der bloßen, „zweckfreien“ Beobachtung der skatenden Jungs verlieren würde. Der Fokus liegt vielmehr auf der Beschreibung der sozialen Dynamiken innerhalb der Gruppe: auf dem Prozess von Stevies Ich-Stärkung und wie sich dieser in Körpersprache und Sprechweisen formuliert, aber auch auf den Verschiebungen innerhalb des sozialen Gefüges.

Nachdem Stevie unter dem Namen „Sunburn“ einen prominenten Platz in der Gruppe gefunden hat – er ist der neue „Kleine“, ganz zum Leidwesen von Ruben – , eröffnen sich ihm ungeahnte Möglichkeiten. Auf einer Party macht er eine erste sexuelle Erfahrung. Und mit seiner neuen Peer Group im Rücken kann er sich auch aus der familiären Enge befreien. Allerdings zeigt sich die Ersatzfamilie nach einiger Zeit als fast ebenso brüchig.

Liebenswerte, anrühende Teenies

Es ist nicht schwer, „Mid90’s“ zu mögen. Die skatenden Teenies sind liebenswert und anrührend – auch weil ihre Jungenhaftigkeit ohne grobschlächtige Machismen auskommt. Im Gegensatz etwa zu Larry Clarks rohen Schilderungen des Skatermilieus sieht hier alles hübsch und fast etwas unschuldig aus – und das trotz familiärer Abgründe, Drogen und wenig hoffnungsvoller Zukunftsaussichten.

Das Gefühl, die so geschilderte Welt sei buchstäblich in Ordnung, liegt nicht zuletzt am visuellen Konzept. Der Film ist im fast quadratisch wirkenden Akademie-Format gedreht, die Bilder sind präzise kadriert, die Farben leuchtend – die kalifornische Sonne ist eine dankbare Lichtquelle.

Doch nicht immer verträgt sich die stilistische Hermetik so gut mit der zunehmend ausfransenden Erzählung und dem Einfangen eines Lebensgefühls, das ja genau darin besteht, keine eindeutige Richtung zu haben. Hills ambitionierter Stil tendiert zudem zum Ornament. Letztlich fügt sich „Mid90s“ selbst allzu flüssig in jene Produktkette ein, die der Film mit dem Auffädeln von Dingen knüpft.

Esther Buss, FILMDIENST