Filmkritik

Do 16. Januar 2020 und Di 21. Januar 2020 17.30 und 20 Uhr
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Der Glanz der Unsichtbaren

Drama

Regie: Louis-Julien Petit

mit: Audrey Lamy (Audrey) · Corinne Masiero (Manu) · Noémie Lvovsky (Hélène) · Déborah Lukumuena (Angélique) · Pablo Pauly (Dimitri)

Frankreich 2018 | 102 Minuten | ab 6

In einer nordfranzösischen Stadt soll ein Tageszentrum für obdachlose Frauen wegen angeblicher Ineffektivität geschlossen werden. Die Sozialarbeiterinnen setzen deshalb alles daran, um ihren Schützlingen doch noch einen Weg zurück in die Gesellschaft zu ebnen und wecken tatsächlich den lange unterdrückten Willen zum Aufbruch. Herzliche, flott und pointiert inszenierte Sozialkomödie, deren überwiegend von Laien gespielte Figuren eine große Wahrhaftigkeit ausstrahlen. Nachdrücklich sensibilisiert der Film für die Aufmerksamkeit gegenüber Ausgegrenzten und würdigt zugleich Einsatz, Mut und Kreativität der Sozialhelferinnen. - Sehenswert ab 12.

Langkritik:

Metallspitzen säumen die Vorbauten der Geschäftsgebäude. Auf den Parkbänken verhindern Stangen, dass sich jemand der Länge nach hinlegen kann. Die Stadt hat vorgesorgt, dass sich dort niemand Unerwünschtes gemütlich niederlassen machen kann, wo sein Anblick unvermeidbar wäre und Anstoß erregen könnte. Dies scheint das Höchstmaß an öffentlichem Eingeständnis zu sein, dass in dem Ort auch Menschen ohne Wohnsitz leben; ansonsten behandelt die nordfranzösische Großstadt Obdachlose wie viele andere Kommunen nach dem Motto: Möglichst nicht hinsehen, aber im Zweifel wegschieben.

Zu den wenigen Anlaufstellen für Menschen ohne ein Dach über dem Kopf gehören Tageszentren wie das Frauen vorbehaltene „L’Envol“: Wenn es morgens um 8 Uhr öffnet, haben sich vor dem Tor schon Schlangen gebildet. Im Inneren findet die Einteilung für die Duschen und Waschmaschinen statt: Viele der Frauen schlafen aber auch einfach stundenlang in irgendeinem Sitz, bevor sie am Abend wieder auf die Straße müssen.

„Ihr verhätschelt sie zu sehr“

Schön oder gemütlich ist es hier in keinster Weise, doch als Zuflucht erfüllt das Haus seinen Zweck gut genug, dass die Besucherinnen immer wiederkommen, auch wegen der offenen Art der Mitarbeiterinnen.

In der Stadtverwaltung wird diese allerdings keineswegs mit Zustimmung betrachtet: „Ihr verhätschelt sie zu sehr“, heißt es missbilligend, weil kaum eine der Obdachlosen den Sprung von „L’Envol“ zu einem Wohnheim-Platz schafft. Die Konsequenz: Schließung des Tageszentrums innerhalb von drei Monaten wegen „fehlender Effektivität“; den Bedürftigen blieben schließlich immer noch Aufenthaltsorte in der Peripherie der Stadt.

Der französische Regisseur Louis-Julien Petit nimmt sich in seinem Film „Der Glanz der Unsichtbaren“ zweier eng beieinanderliegender Sphären an, die beide von der Gesellschaft – und auch von Spielfilmen – wenig wahrgenommen oder gar wertgeschätzt werden. Den Schicksalen der obdachlosen Frauen, die oft Gewalt- und teilweise Gefängniserfahrungen gemacht haben, stellt er die vier Sozialarbeiterinnen im „L’Envol“ gegenüber, die auf einer gesellschaftlich höheren Ebene gleichfalls nicht vom Glück verfolgt sind: Die noch beherzt und idealistisch zu Werke gehende Audrey lässt bereits erste Spuren der Frustration erkennen, die sich ihrer älteren Kollegin Manu schon unwiderruflich ins Gesicht gegraben hat. Die ehrenamtlich arbeitende Hélène erntet von ihrer Familie scheele Blicke, und Angélique als jüngste der vier hat sich offensichtlich selbst gerade erst aus den größten Notlagen befreit und äußert sich am deutlichsten, wenn ihr das Phlegma der obdachlosen Besucherinnen des Zentrums auf den Geist geht. Gemeinsam ist ihnen in erster Linie der Ärger über ignorante Vertreter eines Systems, das immer nur dort tatkräftig zuzupacken scheint, wo es zum Nachteil der Schwachen in der Gesellschaft ist.

Gegen eine Wand aus Indifferenz

Unmissverständlich setzt Petit diese kritische Tonlage schon in den ersten Minuten, indem er sich zunächst auf die Helferinnen konzentriert, die gegen eine Wand aus Indifferenz ankämpfen. Mit der angekündigten Schließung des Tageszentrums könnte der Plot auf ein klassenkämpferisches Werk hinauslaufen, doch der 1983 geborene Filmemacher schlägt eine andere Richtung ein: Die „L’Envol“-Sozialarbeiterinnen sind ihrem Wesen nach konstruktiv und dementsprechend fallen auch ihre Reaktionen auf die fatale Entwicklung aus. Entgegen allen Vorschriften lassen sie die Einrichtung auch nachts geöffnet, vor allem aber machen sie sich an die Basisarbeit, um den obdachlosen Frauen bei der kaum mehr für möglich gehaltenen Reintegration in die Gesellschaft vielleicht doch noch zu helfen.

Das bedeutet zunächst: die Stärken jeder Frau herausfinden, ihr Selbstwertgefühl fördern, Wissen untereinander weitergeben und erfolgversprechendes Verhalten in Bewerbungssituationen üben. Und wo Erscheinungsbild und Lebenslauf einen ungünstigen Eindruck machen könnten, gilt von da an: Alle Tricks und Mogeleien sind erlaubt.

Schlagfertigkeit & Charisma

Je mehr sich Louis-Julien Petit auf die Figuren der Obdachlosen konzentriert, desto mehr wird „Der Glanz der Unsichtbaren“ zu einer Sozialkomödie, deren Vorbilder in britischen Filmen wie „Ganz oder gar nicht“, aber auch schon im sozialbewussten Hollywood-Kino der 1930er-Jahre wie den „New Deal“-Komödien von Frank Capra zu sehen sind: Ohne ideologische Schwarz-weiß-Verzerrungen der Klassen, aber entschlossen gegen offensichtliche Missstände agierend, optimistisch im Glauben an die Macht von Solidarität und kreativer Zusammenarbeit, und festgemacht an Figuren, die Individuen sein dürfen, statt nur Typen zu verkörpern.

Durch seinen realitätsnahen Ansatz erweist sich Petit diesen Vorbildern durchaus gewachsen: Die wohnsitzlosen Frauen sind überwiegend mit Laiendarstellerinnen besetzt, die das Schicksal ihrer Charaktere teilen und insbesondere in den flott und pointiert montierten Einzelszenen im Zuge eines Bewerbungstrainings die Gelegenheit erhalten, Schlagfertigkeit und unerwartetes Charisma zu zeigen.

Einige von ihnen erweisen sich sogar als veritable „Scene Stealer“, insbesondere die stämmige, nur 1,50 Meter große Adolpha Van Meerhaeghe, die unter dem Film-Alias Chantal mit einer Begabung für die Reparatur technischer Geräte noch am leichtesten vermittelbar erscheint, würde sie nicht stets erwähnen, dass sie ihre Fertigkeit im Gefängnis erlernt hat, wo sie wegen der Tötung ihres gewalttätigen Mannes saß.

Die Würde des Menschen

Mit der Wahrhaftigkeit der Laien und den kongenial besetzten Schauspielerinnen in den Rollen der Sozialarbeiterinnen bleibt „Im Glanz der Unsichtbaren“ stets in der rauen Realität verankert. Inmitten des Aufbruchs kommt es deshalb auch zu Rückschlägen, weil nicht alle Frauen mitziehen oder die Helferinnen auch von Selbstzweifeln geplagt werden.

Ohne in agitatorische Umsturzstimmung zu verfallen, nimmt Louis-Julien Petit eine aufmunternde Haltung ein, die nachdrücklich für mehr Aufmerksamkeit gegenüber den Ausgegrenzten plädiert. So behutsam und warmherzig wie in diesem Film ist im Kino kaum je etwas Substanzielleres zu dem viel strapazierten Begriff der Würde des Menschen gesagt worden.

Marius Nobach, FILMDIENST