Filmkritik

Do 5. März 2020 und Di 10. März 2020 17.30 und 20 Uhr
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Nurejew - The White Crow

Biopic

Regie: Ralph Fiennes

mit: Oleg Ivenko (Rudolf Nurejew) · Adèle Exarchopoulos (Clara Saint) · Chulpan Khamatova (Ksenija Puschkin) · Ralph Fiennes (Alexander Puschkin) · Alexej Morosow (Strischewski)

Großbritannien/Frankreich/Serbien 2018 | 127 Minuten | ab 6

Der russische Ausnahmetänzer Rudolf Nurejew (1938-1993), Sohn tatarischer Bauern, avanciert nach einer Ausbildung an der Ballettakademie in Leningrad schnell zum gefeierten Star. Bei einer Tournee nach Paris kehrt er 1961 der ungeliebten Sowjetunion den Rücken, weil er im Westen die Möglichkeit erkennt, seine Homosexualität offen zu leben. Das biografisch orientierte Drama über eine verspätete Adoleszenz arbeitet im permanenten Wechsel der Lebensstationen die Spannung in Nurejews Entwicklung heraus, verschleppt in seiner Sprunghaftigkeit aber auch das Tempo. Der fantastische Hauptdarsteller und die kongeniale Kamera entwickeln auf der Bühne eine magische Präsenz.

Langkritik:

Die Sowjetunion ist Rudolf Nurejews Gefängnis. Nicht im eigentlichen Sinne; der Ausnahmetänzer hat mit Politik nichts am Hut und sitzt in keinem Kerker. Er ist ein Aushängeschild des kommunistischen Regimes und als solches an dieses gebunden. Schon die Umstände seiner Geburt deuten an, dass es für den berühmten Tänzer innerhalb dieses Systems keinen Halt geben wird: der kleine Rudik wird in der Transsibirischen Eisenbahn geboren. Von dort aus macht Nurejew seinen Weg als Tänzer. Mit 17 Jahren schafft er es an die Waganowa-Ballettakademie in Leningrad, mit 20 Jahren ist er Solist am Mariinski-Theater, mit 22 in der ganzen Welt bekannt.

Als Bürger eines kommunistischen Staates aber wirkt Rudolf Nurejew stets wie ein Waisenkind. Der Vater, ein Kriegsheimkehrer, in dessen Augen die Zuneigung bereits erloschen scheint, zieht sich schnell aus seinem Leben zurück. Die Mutter, an deren liebevollen Blick Rudolf noch lange zurückdenkt, bringt ihn in die Tanzschule und wird sogleich gebeten, ihn ganz der Tanzlehrerin zu überlassen. In Leningrad nimmt sich Alexander Puschkin (Ralph Fiennes) seiner an.

Die Welt für sich entdecken

Puschkin und seine Frau werden seine neuen Ersatzeltern. Unter dem berühmten Tanzmeister wird Nurejew die höchste Form der Tanzkunst und die simple Mechanik des Kofferpackens lernen. Die komfortablere Wohnung des Ehepaars aber wird bald zum ersten Gefängnis, aus dem er ausbrechen muss, um die Welt für sich zu entdecken. Es ist ein Adoleszenz-Prozess, den Regisseur Ralph Fiennes den Protagonisten durchlaufen lässt. An dessen Ende wird der hochbegabte Tänzer die Heimat endgültig zurücklassen und in den Westen überlaufen.

Bis dahin gibt es für Nurejew nur auf der Bühne wirkliche Freiheit. Diesem abgedroschenem Motiv haucht der Hauptdarsteller Oleg Ivenko, der selbst Balletttänzer an der Oper von Kasan ist, mit seiner Eleganz neues Leben ein. Mit dem ersten Auftritt reißt Ivenko den Film an sich. Die große Bedeutung, die Nurejew über seine magische Bühnenpräsenz in das klassische Ballett einbrachte, scheint mit jedem Sprung, den Ivenko im Grand Allegro vollführt, direkt auf die Leinwand getragen zu werden.

In diesen Szenen ist nicht der Tänzer für die Kamera, sondern die Kamera für den Tänzer da. Von seiner Präsenz ganz eingenommen, wiegt sie sich mit ihm, stets darauf bedacht, jeden Schritt in all seiner Dynamik einzufangen. Schwelgerisch ziehen sich diese Momente hin, bis die Montage sie mit einem Schritt beendet, der Nurejew zurück in den Alltag der Chruschtschow-Ära befördert.

Permanenter Wechsel der Lebensstationen

Die Adoleszenz, stets gleichermaßen individuell wie universell, wirft Nurejew hin und her, zwischen dem Schoß der Heimat und der Freiheit der weiten Welt, zwischen Kommunismus und Kapitalismus, Ost und West. Den Spagat zwischen eigener Identität als Künstler und Liebhaber und der Kindheit als tatarischer Bauernsohn erzählt „Nurejew – The White Crow“ im permanenten Wechsel der Lebensstationen. Das Dilemma tritt deutlich hervor, doch verschleppt der Film in seiner Sprunghaftigkeit mitunter das Tempo. Eine Gemächlichkeit, mit der sich die Inszenierung von den klassischen Biopic-Rhythmen und Spionage-Thriller-Beats löst, die den Kalten Krieg umgeben. Die verspätete Pubertät bleibt immer das Herzstück des Films.

Aus dem Schoße der verschiedenen Ersatzfamilien entlassen, die in Fragmenten immer wieder in sein Bewusstsein und damit in den Film vordringen, blüht Nurejew im Paris der frühen 1960er-Jahre auf. Sein arrogantes Gebaren scheint hier ebenso vergessen wie seine einfache Herkunft. Er kennt die französischen Tänzer mit Namen, er spricht fast fließendes Englisch und tritt der Öffentlichkeit entgegen, als wäre er der erste Kosmopolit der UdSSR.

Eine Chance für die Liebe

Sein großspuriges Auftreten vermag jedoch nicht die kindliche Begeisterung zu verstecken, mit der Nurejew Kunst, Kultur und Nachtleben gierig in sich aufsaugt. Mit weit aufgerissenen Augen steht er in der Sainte-Chapelle, vor Géricaults „Floß der Medusa“, vor einer Modelleisenbahn und zu Füßen der Burlesque-Tänzerinnen. Nur gestört von den Visagen der KGB-Agenten, die sich immer wieder dazwischendrängen.

Doch Nurejew interessiert sich nicht für die kapitalistischen Verführungen, deren Einfluss die Agenten zu wittern glauben. Es ist die Möglichkeit einer neuen Identität, die er in Paris findet. In der Öffentlichkeit und für die französischen Tänzer ist er nicht mehr der tatarische Bauernsohn, als der er sich in der Sowjetunion fühlte. Auch seine Homosexualität ist hier kein Tabu mehr. Zwar hatte Nurejew bereits eine Beziehung mit dem deutschen Tänzer Teja Kremke (Louis Hofmann), doch erst in einer Bar in Paris offenbart sich ihm erstmals die Möglichkeit, eine solche Liebe öffentlich auszuleben. Während Clara Saint (Adèle Exarchopoulos), die ihn erst aus Liebe, dann aus Freundschaft unterstützt, noch seinen Blick sucht, hat Rudolf nur noch Augen für die Männer, die sich hier küssen. Die Sowjetunion hat er in diesem Moment bereits hinter sich gelassen.

Karsten Munt, FILMDIENST